SCHAUPLÄTZE
Dr. Sylke Wunderlich
Rede zur Eröffnung der Ausstellung im Städtischen Museum Eisenhüttenstadt.
Ingo Duderstedt beschäftigt sich seit mehr als 40 Jahren mit den unterschiedlichsten grafischen Techniken. Siebdruck, Flachdruck sowie Tiefdruck in Form von Radierungen fordern zu Experimenten heraus. Es ist heute seine hauptsächliche künstlerische Ausdrucksform. Die Radierung mit all ihren besonderen Varianten, ob schwarz-weiß, in Grautönen, Kaltnadel in Kombination mit Fotogravur bis hin zur Farbradierung von mehreren Platten gedruckt, führt er zur seltener
Meisterschaft, in beeindruckenden Formaten und Anklängen an Malerei.
Die Themen sind breit gefächert und in Werkgruppen angelegt – Landschaften, Illustratives zur Literatur, bevorzugt Lyrik, Porträt angeregt durch Musik. Hier zieht der Künstler seine Inspirationen aus Jazz und Soul, indem er Protagonisten in ihrer Bühnenpose festhält. Dabei sind die berühmten Interpreten nicht
zwingend porträtähnlich abgebildet, es ist der Rhythmus, die Melodie, das geniale Zusammenspiel von Stimme und Instrument, die Kreativität des Jazz, die den Künstler an die Radiernadel zwingt. Er entwickelt die Porträts aus einem feinen Liniengespinst, das die Radierplatte einerseits zu streicheln scheint, sich
andererseits kräftig verdichtet, Emotionen und Spannung erzeugend.
Beziehen sich die grafischen Arbeiten auf die Literatur, zum Beispiel auf Joseph Kyselak, kommt Ingo Duderstedt weitgehend ohne das Porträt aus.
Jener Kyselak bricht 1825 zu einer abenteuerlichen Reise auf: Zu Fuß durchwandert er Österreich, Steiermark, Kärnten, Berchtesgaden, Tirol und Bayern bis nach Wien. Seinen Reisebericht kann man nachlesen, doch der machte ihn weniger berühmt als die Tatsache, dass er an exponierten Orten seiner Reise einen »Tag« hinterließ – also seinen Namen mit Farbe anschrieb. Eine Gepflogenheit,die man schon aus dem Altertum kennt,trotzdem wird Kyselak dafür von der
gegenwärtigen Graffiti-Szene als einer der ersten»Tagger«verehrt.
Für Ingo Duderstedt sind die anspruchsvollen, sehr ausgedehnten Bergwanderungen,die Landschaften, welche Kyselak querte,spannende Motive.So verschmelzen Vorstellungen vom einsamen Wanderer auf Gipfeln oder Felsgraten, eigene Bergerlebnisse,Blicke über einsame Berghütten,vom Nebel verhangene Bergtäler zu wirkungsstarken grafischen Blättern, zurückhaltend farbig radiert. Meisterlich erfasst der Grafiker die Materialität des schroffen Gesteins im Kontrast zu den eisigen Flächen der Gletscher. Förmlich sieht man das Gestein im Licht flimmern,die warmen Sommersonnenstrahlen oder das eisige Licht der Wintersonne wiederspiegelnd. Steil aufragende Gebirgszüge, zerklüftet, schneebedeckt,tief abfallend,sanft sich in die Ebene schmiegende Hütten und Baumgruppen im Tal,lassen den Betrachter in die Landschaft und Wanderungen des einsamen Österreichers eintauchen. Im Hochgebirge ist weder sein Protagonist,noch der Betrachter allein. Wir werden von einsamen Bergwanderern–vielleicht Caspar David Friedrichs »Wanderer über dem Nebelmeer«,dem Künstler selbst, Naturforschern oder Bergführern begleitet,die sich häufig wie Figuren eines Kulissentheaters farbig über die Landschaft schieben – die Photogravur macht es technisch möglich.Ingo Duderstedts Blätter zum lyrischen Werk Karoline von Günderodes,
Arthur Rimbauds oder Günter Bruno Fuchs, um nur einige zu nennen, verstehen sich nicht als Illustrationen, welche direkt einzelnen Textpassagen zuzuordnen sind.Es sind freie Blätter zum literarischen Werk, von einzelnen Zeilen, Worten, inspiriert. Dazu kommen eigene Gedanken des welterfahrenen Grafikers, intensives Erleben und Empfinden. Historische Bezüge fließen ein und die Szenen verdichten sich zu Schauplätzen von Ereignissen der jüngeren Geschichte – Aufbegehren gegen die Konventionen ihrer Zeit bei Günderode, den gesellschaftlichen Gegebenheiten in Zeiten der Kommune bei Rimbaud oder dem melancholischen Leiden an der Kälte der Welt, dem Fuchs in seinen Gedichten Ausdruck verlieh – übrigens dem Mitbegründer der Werkstatt »Rixdorfer Drucke«,ein Grafikerkollege.
Zusätzlich beeindrucken den Grafiker eher sanft hügelige Landschaften Mecklenburgs oder der Toskana nahe Volterra. Auf der Suche nach Schönheit, findet er Weite, endlose Räume, Naturgewalten und Naturschauspiele ebenso wie Spuren menschlicher Phantasie und Kreativität, umgesetzt mit leuchtender Farbigkeit. Darüber hinaus interessiert ihn das Dasein, das Ich im Verhältnis zur Gesellschaft, Grenzen der Mit-Menschlichkeit, Aufhebung von Zeiten und Räumen. Die realistische Figurendarstellung wird zeitweilig expressiv aufgebrochen, Überlagerungen entstehen und sind gewollt. In der Tiefe der Bildräume finden sich assoziative Hinweise auf historisches Geschehen (Awaiting Exodus) von kaum aushaltbarer Tragik, welche Bezüglichkeiten zu gegenwärtigen Ereignissen herstellen. Vereinzelung, Vereinsamung, Trauer, der einzelne Mensch in seiner Ohnmacht, als Produkt seiner Umwelt, eingesperrt in das große Welttheater sind und bleiben seine Themen.
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